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Diese Theorien machen auch Gefühle

Die Tatsache, dass schon jetzt und zukünftig immer mehr Menschen mit internationalen Familienbezügen in Deutschland alt werden, macht eine Interkulturelle Öffnung, die sich auch mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen auseinandersetzt, zur Selbstverständlichkeit für Seniorenbüros. Gleichzeitig stellen diese Öffnungsprozesse Gewohnheiten in Frage und bringen damit auch unterschiedliche Gefühle hervor. Im Alltag von Seniorenbüros kommt es häufig zu folgenden Herausforderungen:

Authentisch sein

Deutschland ist ein säkulares Land, in dem mehrheitlich christlich geprägte Menschen leben. Auch wenn immer weniger Menschen formalen Ritualen folgen, dominiert das Christentum durch Feiertage oder Gewohnheiten für Feiertags-Grüße. Dies ist ein Ausdruck der hiesigen Dominanzgesellschaft. Im Arbeitsalltag werden religiöse Minderheiten dadurch weniger sichtbar und berücksichtigt, z. B. bei der Planung von Feierlichkeiten oder normalen Veranstaltungen.

Objektiv stößt jeder Mensch an eine Grenze, wenn das Ziel verfolgt wird, alle Perspektiven zeitgleich und vollständig repräsentieren zu wollen. Und dennoch möchten viele eine gleichberechtigte Repräsentanz und Mitsprache anderer Religionen ermöglichen.

Auf persönlicher Ebene kann für das „Übersehen“ anderer Religionen eine Rolle spielen:

  • Was, wenn ich nichts über die vielfältigen Feier- und Gedenktage weiß?
  • Was, wenn ich selbst überhaupt nicht religiös bin?
  • Was, wenn ich selbst eine andere Religion lebe?
  • Was, wenn ich niemanden aus einer Religion oder Land/Region kenne und ein Fest dennoch sichtbar machen möchte, um die Repräsentanz in meiner Organisation allgemein zu erhöhen?

Wirksam ist eine Rücksichtnahme auf Vielfalt, auch von Religionen, in jedem Fall, weil es (leider) immer noch nicht zur gesellschaftlichen Normalität gehört, während des Ramadans etwas zum Fastenbrechen anzubieten, zu Pessach jüdischen Menschen proaktiv Glückwünsche zu senden oder die Bedeutung des Heiligen St. Georg zu kennen.

Ein Kalender, in dem Feiertage von Menschen unterschiedlicher Religionen sichtbar sind, kann bei der Planung verantwortlichen Personen pragmatisch unterstützen.

Kennt man einen Menschen, den man fragen könnte, kann genau in dem Moment der Ansprache jedoch die Herausforderung entstehen, diesen Menschen zu „othern“ oder als Token zu nutzen oder beides.

Eine unter vielen Möglichkeiten „authentisch“ vorzugehen, ist, sich zunächst selbst die Frage gestellt wird: „Wozu dient welche Maßnahme?“ Sollen die angesprochenen Menschen bei Aktionen beteiligt werden? Will die Institution einfach ein allgemeines Signal senden, ähnlich wie bei vielsprachigen Willkommensschildern? Vielleicht gibt es Menschen, die man einladen kann, mitzugestalten, vielleicht gibt es Informationen im Internet, die von Repräsentanten verschiedener Gruppen formuliert wurden.

Tipp

Auch bei weltoffenen Menschen entstehen emotionale Reaktionen, die als „weiße Widerstände“ beschrieben werden. Sie sind die unbewusste Fortführung von subtilen rassistischen Strukturen, Werten und Vorstellungen von Normalitäten. Nicht jedes negative Gefühl ist ein „weißer Widerstand“ und das zu erkennen ist nicht immer leicht. Einen guten Überblick bietet beispielsweise das Buch von Tupoka Ogette „Exit Racism“.

An der Schnittstelle zwischen individueller und struktureller Ebene

Im Rahmen von „Diversity Management“ oder „Interkulturellen Öffnungsprozessen“ wurden mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte eingestellt oder in Projekten beauftragt. Einerseits hat es Menschen, die vorher höhere Hürden zu nehmen hatten, einen Zugang verschafft. Andererseits wurde dieser neu-eingestellte Mensch oft als Token, als „Alibi“ genutzt. An der Logik, dass es in der Institution ein „wir“ = die „normalen“ Mitarbeitenden und „die“ = „die, die sich anpassen müssen“ gibt, änderte sich häufig nichts.

Und das wiederum kann Einzelne in der Organisation ebenfalls verunsichern. Beispielsweise kommt in Kursen die Frage auf:

Wir haben einen Menschen of Colour eingestellt, weil er/sie/* bestimmte Zielgruppen leichter erreicht, das macht uns als Organisation vielfältiger, bringt neue Perspektiven, jetzt heißt es, das wäre nicht okay so. Wieso? Ist es denn Tokenism, Menschen mit Migrationshintergrund einzustellen?

Es kann nur eine Antwort auf diese Art der Verunsicherung geben: Kein Mensch kann das wissen, ohne mit der betreffenden Person Rücksprache zu halten und den Kontext einzuschätzen.

Was für die eine Person schon Tokenism ist, ist es für die andere vielleicht nicht, weil sie das Gefühl hat, sich endlich zeigen zu können.

Es kann auch sein, dass sie sich bewusst auf das Thema Tokenismus einlässt und mit der Zeit etwas innerhalb der Organisation zu verändern versucht.

Dennoch gibt es Hinweise, die helfen, die eigene Organisation einzuschätzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass auf struktureller Ebene Tokenism vorliegt, ist höher, wenn:

  • sich ansonsten die Aufgabenteilung unter den Menschen nicht ändern und die BPoC „nur“ wegen eines äußerlichen Merkmals eingestellt wurde.
  • sich die BPoC sehr viel mehr anstrengen muss, um die gleiche Entlohnung zu bekommen.
  • sich die BPoC nicht auf Augenhöhe bei der Aufgabenverteilung beteiligt oder beteiligen kann, wenn also ein Aushandlungsprozess in der Organisation gar nicht stattfindet.
  • sich die BPoC nicht auf einer Ebene mit Entscheidungsbefugnissen befindet, sondern in der Hierarchie sehr weit unten steht.
  • bei der Einstellung vor allem Bewerber:innen bevorzugt werden, weil sie als assimiliert wahrgenommen werden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass auf struktureller Ebene Tokenism vorliegt, ist geringer, wenn:

  • Menschen mit unterschiedlichen Merkmalen zusammen auf Augenhöhe verhandeln.
  • die Möglichkeiten haben, selbstgesteuert ihre Erfahrungen und Kompetenzen als Betroffene in einem ihnen zuträglichen Ausmaß einzubringen.
  • sich die Organisation dadurch wirklich verändert und Abläufe, Riten, Traditionen und Verantwortlichkeiten mehr Menschengruppen einschließen.
  • Menschen nicht auf ein Diskriminierungsmerkmal reduziert werden.

Ein weiterer Indikator, ob Tokenism vorliegt, ist die Frage, wer genau von einer Einstellung von BPoCs profitiert. Und noch wichtiger ist die Frage, wie geht der Prozess weiter? Werden die verschiedenen Perspektiven berücksichtigt und in regelmäßigen Reflexionsprozessen immer wieder auf einen aktuellen Stand gebracht?

Hilfreich könnte sein, sich die Erfahrungen aus dem Gendermainstreaming, die alten Diskussionen um „die Quoten-Frau“ und ähnliches in Erinnerung zu rufen, um sich in die verschiedenen Perspektiven einfühlen zu können.

Definition

Tokenismus beschreibt kritisch eine symbolische Geste, bei der Menschen, die aufgrund einer (ihnen zugeschriebenen) Kategorie eine Minderheit in einer dominanten Gruppe darstellen.
(zitiert nach https://www.vielfalt-mediathek.de/kurz-erklaert-token-tokenismus)

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